Stephan Serin



Chaussee der Enthusiasten

Dienstag, 15. April 2014

Kapitel 7/2

Die Erasmus-Party war kein Erfolg, also ging es für Markus allein zurück ins Wohnheim, wenn auch mit Zwischenstopp.

Bis zum Wohnheim waren es bestimmt 45 Minuten. Vor dem Méliès, Paus einzigem Programmkino, einem grauen Gebäude, optisch eine Mischung aus Anglikaner-Kirche und Parkhaus, warteten etwa ein Dutzend Leute. Die Spätvorstellungen hatten noch nicht begonnen. „No man’s land“ von Danis Tanović in Kino 1 und in Kino 2 „Le pornographe“ von Bertrand Bonello. Den bosnischen Streifen hatte ich vor zwei Tagen bereits mit Sebastian gesehen. Es war erst dreiviertel elf. Ich wollte eigentlich nach dieser frustrierenden Party nicht schon zurück ins Wohnheim. Andererseits, wie verzweifelt war das denn, wenn ich in einen Film ging, der „Der Pornograph“ hieß? Die meisten Besucher waren sicherlich wegen „No man's land“ hier. Mit wem würde ich mir den Saal teilen müssen? Mit einer Handvoll alleinstehender Männer, die ihre besten Jahre schon hinter sich hatten und gar nicht mehr wussten, wie man Sex überhaupt schrieb? Andererseits bewiesen die Fotos im Schaukasten: Es gab in „Le pornographe“ tatsächlich Nacktszenen. Wann hatte ich das letzte Mal eine weibliche Person unbekleidet gesehen? Ich stellte mich erstmal an. Vorsorglich. Einen Rückzieher konnte ich immer noch machen. Am Ticketschalter saß eine Frau. Bei ihr hätte ich meinen Ruf als Perverser mit Sicherheit weg. Gerade eine Woche in der Stadt und schon das erste Mal in einem Pornofilm. Warum zeigte man den eigentlich in einem Programmkino? Vor mir stand ein mittelalter Herr. Der wollte bestimmt auch dahin. Er entsprach dem Bild, das ich mir von Besuchern eines Puffs machte: klein, bebrillt und glatzköpfig, also ich in zwanzig Jahren. Seit meiner Ankunft vor einigen Tagen fielen mir die Haare aus. Roch er nicht auch seltsam? Wahrscheinlich würde er während der Vorführung heimlich onanieren. Sicher war ich gleich umringt von sexuell frustrierten, bemitleidenswerten Kerlen aus dem unteren Attraktivitätssegment, die alle, sobald auf der Leinwand die erste Brustwarze zu sehen war, synchron ihr Glied hervorholten.
Wenigstens stand ich hinter dem Typen. Am Schalter konnte ich sagen: Ich nehme das gleiche. So würde das Pärchen nach mir nicht erfahren, was ich mir ansah. Es reichte, wenn ich bei der Ticketverkäuferin auf die schwarze Liste kam. Sollte ich mir noch schnell eine Erklärung für sie zurechtlegen, falls sie mich zur Rede stellte und wissen wollte, wieso ich einen so schweinischen Film schaute? ‚No man’s land‘ habe ich schon gesehen, darum gehe ich heute in einen Erotikfilm. Oder: Mich interessiert nur die Handlung. Bei den Sexszenen gucke ich nicht hin.
Mist! Gleich war ich an der Reihe. Selbst wenn sie sich nichts anmerken lassen würde, ihren Teil denken würde sie sich in jedem Fall. Jetzt bestellte der Typ vor mir: „Deux fois ‚No man’s land‘.“ Damit hatte ich nicht gerechnet. Nicht nur, dass er eine Begleitung hatte, er wählte auch noch den anderen Film! Jetzt konnte ich nicht mal das gleiche nehmen. Ich trat zur Seite und ließ das Pärchen vor. Sie wollten ebenfalls zu Tanović. Ich ließ noch einen Besucher vor. Auch der wollte in „No man’s land“, obwohl er ebenfalls gut zum anderen Film gepasst hätte. Ich gab mir einen Ruck.
Un billet pour l’autre film. – Eine Karte für den anderen Film“, murmelte ich.
Den anderen Film?“, wunderte sich die Frau an der Kasse. „Kino 2“, flüsterte ich.
Also einmal ‚Le pornographe‘?“, vergewisserte sie sich für alle vernehmbar. Ich wäre am liebsten vor Scham im Erdboden versunken. Sie musterte mich spöttisch. Erwartete sie, dass ich ihr versprach, nicht zu onanieren?
Da sind aber Nacktszenen drin“, warnte sie.
Ach so …“, stammelte ich. „Äh, ja ... wieso? Wieso sagen Sie mir das?“
Bist du denn schon achtzehn?“, musterte sie mich streng.
Äh, ja. Dreiundzwanzig.“
Kannst du mir deinen Schülerausweis zeigen?“
Meinen Schülerausweis? Wieso?“
War nur ein Spaß.“ Sie lachte. „Der Film braucht dir nicht peinlich zu sein. Ich wollte dich nur ein bisschen ärgern.“
Das ist mir nicht peinlich“, stritt ich alles ab.
Ich erhielt meine Karte und trat zur Seite. Der Frau hinter mir erklärte: „Ich möchte auch in den Film, in den der junge Mann vor mir möchte. Ich bin aber schon über 18. Hier mein Seniorenticket.“
Ich flüchtete in den Kinosaal, in dem das Publikum deutlich weniger homogen war, als ich befürchtet hatte. Ich befand mich nicht ausschließlich in Gesellschaft solo erschienener männlicher Besucher zwischen 40 und 50 im Singlestatus, sondern eines gemischten Publikums. Es gab Männer um die 30, es gab Frauen und sogar Pärchen. Und „Le pornographe“ war entgegen meiner Erwartung auch kein Sexfilm, sondern die Geschichte eines alternden Pornoregisseurs in einer Sinn- und Schaffenskrise. Einerseits war ich erleichtert, andererseits auch irgendwie enttäuscht, denn die wenigen Nacktszenen waren nicht wirklich erotisch. Sie zeigten den Protagonisten dabei, wie er daran scheiterte, eine gute Sexszene zu drehen. Bevor man als Zuschauer in Stimmung kam, kleideten sich die Darsteller wieder an. Die meiste Zeit lief der Regisseur mit in den Hosentaschen vergrabenen Händen und tiefen Furchen auf der Stirn über die Leinwand und gab banale, sinnfreie Sprüche von sich, die seiner Midlife-Crisis sprachlich Ausdruck verleihen sollten. Selbst wenn ich vorgehabt hätte zu onanieren, hätte ich es nicht geschafft. Es war so langweilig und künstlich. Ich verließ den Film schon kurz vor dem Ende. Wenige Minuten nach eins erreichte ich das Wohnheim.
Ah, Marküs. Iiieesch bin kaput. Wiielst du meinen Puller lutschen?“ Rachid saß kiffend auf seinem Fensterbrett im zweiten Stock vom Bâtiment A. Aus seinem Zimmer schallte französischer Hip-Hop ins Freie. Ob er sich irgendwann merken würde, dass man meinen Namen nicht Marküs aussprach? Ich hatte es ihm bestimmt schon fünfmal gesagt.
Wo warst du?“, fragte er.
In einem Pornofilm.“
Er musste lachen. Er hielt alles, was ich sagte, für einen Witz. Dabei war mein Abend gar nicht lustig gewesen, sondern total ernüchternd.
Ich winkte noch einmal, dann tippe ich meinen Code ein. Als ich die Tür geöffnet hatte, platzte mir fast das Trommelfell. Jemand telefonierte.
Afo bu mgbe onye ha na kpo huru ebe hé liri Tutankhamun ... Es war nicht Sebastian, sondern meine schwarzafrikanische Nachbarin im blauen Jogginganzug. Sie feuert ihre Syntaxkaskaden nicht nur in einer Lautstärke ab, die die dünnen Gemäuer des Wohnheims erzittern ließ, sondern auch in einer Geschwindigkeit, die es mir unmöglich machte zu erkennen, ob sie Französisch, Englisch oder irgendeinen afrikanischen Dialekt sprach. Wahrscheinlich letzteres. Warum telefonierte sie um diese Zeit? Gab es eine Zeitverschiebung? Und warum schrie sie so? War die Verbindung so schlecht? Oder stritt sie sich mit ihrem Freund daheim? Ich ging auf Toilette, dann auf mein Zimmer. Der Abend war ein totaler Reinfall. Vielleicht sollte ich doch langsam mal Marine anrufen. Vielleicht hatte der Italoengländer sich heute mit ihr getroffen. Vielleicht war er deswegen nicht erschienen.

Weiter geht es am Wochenende.

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